Vor einigen Monaten wohnte ich einem Vorstellungsgespräch bei. Beworben hatte ich mich auf eine Stelle eines Unternehmens, das mit flachen Hierarchien, modernen Arbeitsstrukturen und Gleitzeit warb.
Mit dem Passieren des Pförtners passierte ich eine Zeitschleuse in die 1990er Jahre: Granitböden, Möbel in kaltem Schwarz, die Wände in kaltem Weiß, Fensterrahmen in tiefblau, die Türklinken aus Plastik in der gleichen Farbe. In den 1990ern war Kälte überrepräsentiert. Es war das Zeitalter des Techno, Stahl, Neonröhren, flackernde Bildschirme, graue Anzüge für jedermann, auch für die Frauen, die es kaum gab.
Nachdem man in den 1980ern den Effizienzgedanken entdeckt hatte, hatte man in den 1990ern den Höhepunkt der Funktionalität in allem erreicht. Kurze Wege, Personalrationalisierung, Schließungen, Neustrukturierungen usw.
In dieser Firma lag der Geist dieser Ära immer noch in der Luft. Nachdem ich mich in einen, in den 1990er Jahren überrepräsentierten Freischwinger, deren Lehnen IMMER zu kurz sind, um sich anständig anzulehnen, setzte und auf das Wasser in der Mitte des Tisches sah, erinnerte ich mich: „In den 1990ern war der Kodex in Vorstellungsgesprächen, dass man kein Getränk annahm, da man nur zum Arbeiten kam.“ Man bat mir deshalb sicherheitshalber auch gar keins an.
In dem Gespräch kam man schnell zur Sache, so wie es bei Menschen, die nur für die Funktionalität leben, üblich ist. Bis zu diesem Punkt wurde ich nicht stutzig, da ich das schon sehr häufig erlebt hatte. Vielleicht habe ich bereits ein Stockholm-Syndrom entwickelt 🤔
Was mich dann allerdings hellhörig werden ließ, war die Aussage, dass es in dem Unternehmen zwar Gleitzeit gab, die Kernarbeitszeit aber zwischen 9 und 16 Uhr läge. Anwesenheit war Pflicht, da man sonst nicht miteinander arbeiten könnte.
Wer eine Excelliste über Wochen konzipieren und mit tausenden von Zahlen füllen musste, weiß wie „angenehm“ das zusammenarbeiten bei solchen Aufgaben ist. Am Besten in Büros mit drei bis vier weiteren Mitarbeitern, wovon bei mindestens einem das Telefon niemals still steht. Man kommt quasi nicht zum Arbeiten, da ständig irgendwas passiert, was einen aus der notwendigen Konzentration reißt. Das Ergebnis sind Überstunden. Nicht weil man wahnsinnig viel zu tun hat, sondern weil man einfach in der vorgegebenen Zeit, die man anwesend sein muss, nicht zum Arbeiten kommt.
Mich fasziniert es, wie beharrlich in den meisten Firmen weiterhin an festen Arbeitszeiten festgehalten wird. Man verspricht sich dadurch mehr Kontrolle über die Arbeitnehmer, wobei man nur die Kontrolle hat, dass sie da sind. Das ist alles. Erstaunlicher Weise scheint es in den meisten Firmen zu funktionieren. So wie die meisten Firmen immer irgendwie funktionieren und man sich oft fragt, wie(so) eigentlich. Daher machen die meisten Firmen auch so weiter und solange es noch Menschen gibt, die sich damit arrangieren, ist das machbar.
Allerdings nehmen sich Arbeitgeber genau das, wofür sie eigentlich stehen wollen: Effizienz.
Mitarbeiter, die wie Schafe in einen Stall gestellt und nur morgens und abends durchgezählt werden, werden auch nichts anderes machen als Schafe: Widerkäuen. Im schlimmsten Fall nur das, was der Chef vorgibt. Dies kann der Chef mit Wutausbrüchen, mentalem Druck und anderen Spielchen untermauern, damit er sicher sein kann, dass seine Schafe nur das machen, was er vorgibt (plus minus einiger Abweichungen durch Missverständnisse). Und am Ende beschweren sich die Vorgesetzten, dass ihre Mitarbeiter nicht mitdenken.
Mitarbeiter, die komplexe Aufgaben erledigen, handeln intrinsisch, d. h. sie arbeiten aus einer eigenen, inneren Motivation heraus. Sie brauchen keine Kontrolle von außen, sondern sie brauchen klare Ziele, Sinnhaftigkeit (neudeutsch Purpose), Transparenz, Rücksprachemöglichkeiten, Coaching, Unterstützung und Menschlichkeit, damit der intrinsische Motor läuft. Sind diese Eckdaten gegeben, stehen die Mitarbeiter hinter ihren Aufgaben und übernehmen die Verantwortung für sie.
Wann haben Sie als Letztes einem Mitarbeiter ein konkretes Ziel definiert und ihm dieses Ziel in dem Gesamtzusammenhang der Firma dargestellt? Wann haben Sie das letzte Mal ihrem Mitarbeiter offen zugehört, ohne ihn ständig zu unterbrechen und nur selbst zu reden? Wie gut kennen Sie Ihre Mitarbeiter? Haben Sie mitbekommen, dass Frau Becker neulich der Hund verstorben ist?*
Gerne bin ich Ihnen dabei behilflich, diese Ziele zu formulieren, zu artikulieren und solche Gespräche in Ihrem Unternehmen zu implementieren, damit Sie die mitdenkenden Mitarbeiter bekommen, die Sie sich wünschen. Kontaktieren Sie mich gerne.
Abschließend lassen Sie mich erläutern, warum eine 100%ige Gleitzeit für Mitarbeiter wichtig ist und warum auch Sie langfristig davon profitieren werden:
- Mitarbeiter können Ihre Arbeitsweisen ihrem Biorhythmus anpassen und müssen in ihren Tiefphasen nicht auf der Arbeit „abhängen“. Diese Anpassung reduziert in der Produktion die Unfallanfälligkeit. In konstruktiven oder kreativen Berufen können damit Hochphasen optimal genutzt werden. Auch vor dem Aspekt des Klimawandels ist es für Arbeitnehmer gesünder, wenn sie ihre Arbeit dem Klima anpassen können.
- Mitarbeiter können Arzttermine, Behördengänge und sonstige private Besorgungen in die Freizeit legen und müssen nicht den Arbeitgeber fragen. Damit geht keine Arbeitszeit verloren und der Mitarbeiter muss keine Rechenschaft dafür ablegen und fühlt sich freier.
- Arbeitnehmer können Rush Hours umfahren und kommen weniger gestresst auf der Arbeit an.
- Es fallen (bezahlte) Überstunden weg, da Arbeitnehmer die Arbeitszeit effizienter gestalten können.
- Die Mitarbeiter sind zufriedener, da sie das Gefühl haben, dass ihnen vertraut wird.
Natürlich gibt es schwarze Schafe, die Gleitzeit ausnutzen, aber wenn Sie einen guten Draht zu Ihren Mitarbeitern haben, dann fällt Ihnen das auf. Dann ist es an Ihnen, herauszufinden, warum dieser Mitarbeiter Schwierigkeiten damit hat. Fehlt ihm die Motivation? Kommt er mit seinen Aufgaben nicht klar? Wird er vom Team ausgeschlossen? Hat er private Probleme? Fragen Sie nach!
* Das Härteste, was ich in meiner Berufslaufbahn erlebt hatte, war ein Vorgesetzter, der mir sagte, dass er das sehr ärgerlich fände, dass die Beerdigung meines Vaters auf einen Mittwoch fallen würde, da an dem Tag doch schließlich immer das wichtige Meeting XY sei. Natürlich bin ich auf die Beerdigung gegangen!
Es gibt Dinge, für die sollte man eher einen Job riskieren, als sie nicht zu machen. Hier ein Artikel über ein Buch, dass beschreibt, was Sterbende am meisten bereuen, nicht oder zu viel gemacht zu haben.